Meine Höhere Macht
Vortrag als Sprecher beim NA-Meeting "Carpe Diem"
ml, 20170304


Vielen Dank für die Einladung hier bei Euch sprechen zu dürfen.
Allerdings hat mir Freund G das Thema gestellt "Höhere Macht", und das ist nun nicht gerade das einfachste. Ich hätte ja auch erzählen können "Wie ich mit NA clean wurde", oder "Was ich bei NA Lustiges erlebt habe." Nein, es muss gerade so ein Hammer-Thema sein.
Aber ich bin recht dankbar dafür, denn es hat mir in den letzten Tagen den Anlass und die Notwendigkeit verschafft, über das Wesen meiner höheren Macht nochmal ausführlich nachzudenken, und mich ihrer Hilfe auch seelisch zu vergewissern.

Ich möchte eine kleine Warnung voranschicken:
Was ich daran wie wir in Berlin NA praktizieren sehr gut finde, ist die weite Pluralität: Dass es ganz verschiedene Ansichten, Überzeugungen und Ausgangspunkte geben darf, die sich gegenseitig gelten lassen, und deshalb auch keine bestimmte Art von Höherer Macht, an die man zu glauben habe. Auch wenn man der Kürze halber "Gott" sagt, kann das was ganz anderes bedeuten ...

In diesem Sinne ist auch meine Auffassung davon selbstverständlich meine persönliche, und es kann sein, dass die folgenden Ausführungen einigen hier allzu theoretisch und abstrakt vorkommen. Es ist im Sinne von Pluralität nie zu vermeiden, dass nicht allen alles gefällt. Seid jedoch versichert: Auch wenn es sich abstrakt und theoretisch anhört, für mich funktioniert es ganz praktisch!

Zunächst meine Herkunft und Hintergrund. Davon sind für meine Höhere Macht zwei Säulen bestimmend, nämlich die christlich-katholische Sozialisation und meine Arbeit als Wissenschaftler.

Zum ersten ist zu sagen, dass ich in einer links-katholischen Familie aufgewachsen bin. Der Kapitalismus ist von Übel, der Staat latent/potentiell faschistisch, und die einzig wahre Lebensform das Ur-Christentum.
Nunja, viele von diesen Ansichten finde ich heute noch korrekt, und ich weiß nicht, ob mir das guttut oder nicht?
In meiner Herkunftsfamilie bin ich von katholischen Priestern umzingelt, meine Mutter ist gar Religionslehrerin. Ich war Messdiener, sang inbrünstig in einer evangelischen Jugendkantorei und studierte danach Musik, genauer: Komposition. Mein Kompositionslehrer war evangelischer Kirchenmusiker, aber auch ins Linke gewendet. Der komponierte dann so Dinge wie ein "Vaterunser gegen den Springer-Konzern" und ein "Te-Deum über die Frauenfrage", etc. Das klingt jetzt lustig, aber es waren alles sehr ernst zu nehmende, überzeugende und gute Kompositionen.
Ich habe die christliche Religion immer wieder über längere Phasen intensiv "praktiziert", und die Auseinandersetzung mit theologischen Fragen ist für einen mit der Musiktradition Westeuropas intensiv und praktisch Ringenden allemal tägliche Aufgabe. Für meine eigenen Werke bilden oft Choralmelodien das Fundament, denen man in diesen Kulturkreisen grundlegende semantische Signalfunktion zuspricht, ähnlich dem Solidaritäts- oder Einheitsfrontlied.

Dennoch aber habe ich während meines ganzen Lebens keine einzige Sekunde an diesen "Gott" geglaubt. Ich glaube nicht an eine Person, die da ist, an einen persönlichen Schöpfer, der das Universum hervorgebracht hat, nicht an einen Richter, der unser Verhalten berurteilt, und nicht an einen geoffenbarten Gesetzgeber, der uns sagt, was wir zu tun haben.
Ich glaube nicht daran, habe nie daran geglaubt, und bin sehr froh darüber.
Ich glaube nicht nur nicht daran, sondern ich glaube fest daran, dass es ihn nicht gibt.

Meine zweite Herkunft ist die des Wissenschaftlers.
Wenn man Wissenschaft ersthaft betreiben will, meine ich zumindest, muss man sich auch mit Wissenschaftstheorie beschäftigen. Diese weist nun sehr schnell und eindeutig die GRENZEN der Wissenschaft auf. Diese sind deutlich enger als Laien es vermuten.
Oft wurde ich gefragt, was denn "die Wissenschaft" zu einer bestimmten Frage sage, und meist war die Antwort: garnix!

Die Wissenschaften (in des Wortes wirklicher Bedeutung) sind nämlich der Nachprüfbarkeit und Wiederholbarkeit verpflichtet, sie reden von Versuchsreihen, von Statistiken, vom Durchschnitt, von großen Zahlen. Und eben NICHT vom Einzelfall.
Das ist ihre wichtigste Begrenzung.

Diese hat die sehr befreiende Konsequenz, das nämlich eine Wissenschaft NICHT als höhere Macht taugt. Auch mit wissenschaftlicher Begründung kann es keinen Guru geben, keinen Leader, keinen, der uns sagt, was wir als Individuum im konkreten Einzelfall zu tun haben.
Das kann man als weiter verunsichernd empfinden; allemal empfinde ich es als befreiend.

Was bleibt als höhere Macht dann Übrig?
Überhaupt hat ein negatives Verfahren mich zu positiven, tragfähigen und anwendbaren Ergebnisse gebracht, nämlich immer zu fragen, was die Höhere Macht NICHT ist.

Letzte Woche hatte ich einen Eingriff im Krankenhaus über mich ergehen zu lassen. Ich hatte ein "Raucherbein", obwohl ich seit fast zehn Jahren nicht mehr rauche, was ich als sehr ungerecht empfinde !-)
Jedenfalls gab es wie immer kleinere organisatorische Unebenheiten, ich wurde mal für ne halbe Stunde in irgend einer Ecke vergessen, dann wieder hevorgeholt, etc. Noch vor zwei/drei Jahren hätte ich mich tierisch aufgeregt. Jetzt aber war es mir egal: Ich musste eh eine gewisse Zeit hier verbringen, und ob ich in der einen oder der anderen Ecke sitze, macht überhaupt keinen Unterschied. Diese GELASSENHEIT habe ich als sehr befreiend erlebt.
Am Anfang, als ich clean wurde, habe ich fleißig diese Schlüsselanhänger gesammelt. So-und-so-lange clean, das hab ich verstanden. Das ist ja objektiv nachmessbar. Aber was soll das mit der "Gelassenheit"? Warum steht das überhaupt da drauf? Was hat das mit Sucht zu tun? Das hab ich JAHRELANG nicht begriffen, -- erst seit kurzem weiß ich es.

Ohne dass ich zu ihm als "meiner Religion" eingetreten wäre, oder mich einer religiösen Gemeinschaft angeschlossen hätte, sehe ich mich heute am nächsten noch dem Buddhismus, -- verstanden als eine Philosophie, aber auch verstanden als eine "Re-Ligion", wenn man damit die zurück-liegenden, die zu-grunde-liegenden axiomatischen Überzeugungen meint, die jedes Denken als seinen Ausgangspunkt ja braucht.

Darin wird auch gesagt, dass auch "MEIN ICH" eine Art der Illusion ist, und keinesfalls meine höhere Macht. Nein, ganz im Gegenteil, das Ego kann etwas sehr Störendes sein und nur hinderlich Sand ins Getriebe werfen. Das hab ich im Krankenhaus erleben dürfen, als ich mich selber ABGEGEBEN hatte! Ich bin ja nicht nur mein Ego, sondern auch ein Körper, der nach bestimmten Regeln funktioniert. Ein Haufen von Zellen und Gefäßen. Ich bin Subjekt der Krankenversicherung. Ich bin ein den Ärzten anvertrauter Patient. Und das alles bin ich, OHNE mein Ego einschalten zu müssen! Und es geht auch sehr viel besser, wenn ich es NICHT einschalte: Die Ärzte machen diesen Eingriff dreimal am Tag, die kennen das, die Pfleger wissen was sie tun und die Verwaltung regelt das mit der Krankenkasse. Ich BRAUCH da garnix zu kontrollieren und ich kann da auch nix kontrollieren. Wenn ich das alles abgebe, nicht bewerte, einfach mit mir machen lasse und mich NICHT als Ego betrachte, gehts mir schlagartig um Klassen besser.

Meine allerwichtigste Grundüberzeugung ist der Glaube an das sich schrittweise, langsame aber weltweite Durchsetzen der Sätze die "stabil sind unter Selbstbezug".

Dieses Prinzip kommt aus dem klassischen "Deutschen Idealismus", also von Hegel, Schelling und Fichte. Es scheidet Aussagen, die wahr bleiben, wenn man sie reflexiv auf sich selbst anwendet, von solchen, für die das nicht gilt.
Beispiel: "Die Sache X ist nützlich."
Nehmen wir an, das stimmt, also X sei eine nützliche Sache.
"Zu wissen, DASS die Sache X nützlich ist, ist nützlich." ist dann auch ein wahrer Satz, denn wenn ich weiß, dass etwas nützlich ist, kann ich es nutzen.
Gegenbeispiel: "Die Sache Y ist angenehm." "Es ist angenehm zu wissen, dass Y angenehm ist." Letzteres stimmt allerdigs NICHT immer, denn wenn ich Y nicht kriegen kann, ist es eher unangenehm zu wissen, dass es angenehm wäre ...

"Stabil unter Selbstbezug" sind nun die Absichten, Strategien, Überzeugungen, Handlungen, die sich im Laufe der Zeit durchsetzen werden. Denn was nicht stabil ist unter Selbstbezug trägt den Keim zur eigenen Widerlegung schon in sich. Keine Herrschaft läßt sich auf die Dauer auf Unterdrückung bauen, keine Beziehung auf Lüge, keine Gesellschaft auf Unrecht. Das geht nur eine gewisse Zeit lang gut, vielleicht hundert bis tausend Jahre. Aber nicht ewig.

Das was sich selber verstärkt ist Verständnis, Mitgefühl, Gerechtigkeit, -- man könnte es auch "das Gute" nennen. Das siegt von selbst, denn nur das Gute ist auf die Dauer stabil.

In diesem Sinne bin ich ein kleines Teilchen einer großen Maschine, die sich "Universum" nennt. Und andere Teile davon und Teile von mir greifen sinnvoll und heilend ineinander, so meine Existenz als Patient, das aufwendige Ausbildungs- und Zertifizierungssystem für Ärzte, die Labortechnik, die mein Blut untersucht und der Computer, der meine Adern auf den Bildschirm wirft.
Negation befreit. Wenn ich mein Ego ab-strahiere wird alles gut. Wenn ich mich einmische droht Chaos und Unzufriedenheit.

Wir alle sind nun nicht nur Teil des Universums als System, sondern auch Teil dieser seiner Entwicklung hin zum Guten. Diese wird vielleicht noch zehntausend Jahre benötigen, und wir bekommen nur einen kleinen Ausschnitt daraus mit. Dennoch können wir sie spüren. Sie geht jeden Tag wie ein Wind durch uns hindurch. Dies ist meine Höhere Macht.

Ich selber bin verletzt worden durch die Kontaktunfähigkeit meiner ihrerseits verletzten Eltern. Ich bin kriegs-traumatisiert in zweiter Instanz. Amtlich anerkannt.
Wenn ich diese Verletzungen und ihre Auswirkungen, die Trennungs- und Verlassensangst, die Wut, die Ko-Abhängigkeit, die Selbstzentriertheit und -vergessenheit, als Projektionen auf meine Mitmenschen übertrage, dann trage ich dieses Böse, von dem meine Eltern ja auch nur Opfer waren, weiter.
Wenn ich diesen Prozess der Vererbung aber unterbreche und in die richtige Richtung gehe, mir selber Gutes tue, und damit meinen Mitmenschen, wenn ich einfach NICHT der bösen Programmierung folge, dann wird alles von selber gut!

Jahrzehntelang ging das Gerücht, dass Gehirnzellen nicht nachwachsen, dass jeder Schaden im Geist deshalb irreparabel sei. Dies wurde gefolgert, weil man bei Erwachsenen niemals junge Gehirnzellen sehen konnte. Die gibt es aber, denn sie reifen nicht am Ort ihrer Verwendung, sondern im Stammhirn und wandern erst "fast fertig" dann dahin wo sie gebraucht werden (Alexandre Castro-Caldas, KEOD 2013).
Wir können also fröhlich weiter gesunden und im Kopf lebenslang wachsen. Wenn man lang genug clean bleibt, spürt man fast täglich, wie es Klick macht im Gehirn, wie im Geist Dinge wieder zusammenwachsen, die zusammengehören!-)




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