Gustav Mahler "Ich bin der Welt abhanden gekommen"
Abiturklausur 1979
, (23.3.1979)
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Zusammenfassung und Deutung
Dies ist der Text meiner Abiturklausur im Leistungskurs Musik
bei Dr. Edgar Makosch.
Die Aufgabenstellung:
"Thema 1: Gustav Mahler, "Ich bin der Welt abhanden gekommen"
(Rückert-Lieder), 1901-1904.
Analysieren Sie die Komposition unter dem Aspekt des Materialbezuges
zwischen Singstimme und Orchesterpart."
Es wurde eine Schallplattenaufnahme vorgespielt und eine Fotokopie der
Partitur ausgeteilt. Dabei handelte es sich um die Es-Dur-Version der Orchesterfassung
des Liedes.
Es gab auch eine alternative Aufgabe, irgendwas über einen Text von
Schönberg oder Adorno oder so,
aber die haben nur zwei von allen dreißig Teilnehmern gewählt.
Wir anderen waren uns alle einig, daß unser Lehrer mit dieser Aufgabenstellung
uns ein wunderschönes Geschenk gemacht hatte. Schade, so etwas wird
bei einem "Zentral-Abitur" nicht mehr möglich sein!
Es folgt nun unbearbeitet der abgegebene Text. Verbesserungsvorschläge
meines verehrten Lehrers Dr. Makosch sind fast sämtliche eingearbeitet
und durch eckige Klammern gekennzeichnet, ebenso die wenigen eigenen Korrekturen
offensichtlicher Taktzählungsfehler.
[2]
In diesem Rückert-Lied von Mahler gibt es zwei grundlegende
Typen von Material, die mehr oder weniger unvermittelt nebeneinanderstehen
bzw. aus ihrer Getrenntheit zu einer Synthese geführt werden.
Es sind dies zum einen ein pentatonisch geprägtes Material, zum andern
ein funktional-chromatisierendes.
Die funktionale Tendenz geht dem ersten Material ab. Es hat, seiner pentatonischen Struktur entsprechend, die Bestrebung, ruhige, statische, fließende und doch beharrende Flächen zu bilden.
Der Tonart Es-Dur entsprechend sind dies in den ersten drei Takten die Töne (in der Reihenfolge ihres Auftretens): b, c, g, f, es =
(Der Ton d im Fagott Takt 3 ist kein "Stammton", sondern nur skalenmäßige Auffüllung der unbetonten Zeit, woraus sich später das Skalenmaterial entwickelt, welches auch [schon] zu dieser ersten Materialkategorie gehört.)
Aus diesem exponierten Anfangsfeld entwickelt sich das erste "Thema", die erste von der Singstimme dem Text [3] unterlegte Melodie. Insofern ist also ein starker Bezug zwischen Singstimme und Orchester gegeben, als dieses die Melodie nicht nur vorwegnimmt, sondern entstehen läßt.
Diese Melodie, (die ersten 2 Takte der Singstimme mit Auftakt) ist in sich dreiteilig, dialektisch:
Die ersten 4 Noten b c es g sind gewonnen aus dem pentatonischen Eingangsfeld, der zweite Teil besteht aus jener herabpendelnden [Folge] in -Noten, die den "neuen" Ton "as" einführt, der dritte Teil erreicht den Spitzenton b und führt in die Sphäre des Anfangs zurück, allerdings nun schon fast funktional, jedenfalls "hamonisiert": Die der Bewegung g-b-g unterlegte Kadenz heißt c-B-c (Trugschluß).
Deutlich betont wird dieser zweite Teil der Melodie durch die kleine Sekunde as-g, die nicht Materialbestandteil des pentatonischen Feldes ist. Liest man jedoch nur die umspielten Stammtöne des Taktes 13, so erhält man folgende, für die Materialentwicklung besonders am Schluss wichtige Figur:
[4] Auch dieser Figur wird (sowohl zu Beginn im E.h., wie auch in der Singstimme) die trugschlüssige Wendung B-c unterlegt. Diese unbestimmte Harmonik ist nichts als eine Fortsetzung der Unbestimmtheit der pentatonischen Struktur des Eingangsfeldes. Die Töne b-d-f oder c-es-g werden ausgewählt, wobei das "d", unmerklich eingeführt durch jenen Durchgang in Takt 3 Fg, die erste Entwicklung zur Funktionalität anzeigt.
Ist das Materialcharakteristikum der 2., funktionalen Kategorie die kleine Sekunde (diatonisch oder chromatisch, antithetisch auftretend im Quartvorhalt as-g, synthetisch aufgehoben im "d" des B-Dur), so beinhaltet jede pentatonische Skala virtuell große Sekunden und kleine Terzen. Diese Intervalle werden nun, da es ja um die Expositionierung eines Feldes geht, aus dem sich das Thema auskristallisiert, nach Belieben kontrapunktiert.
Am Anfang schon die Wendung f-es im Fagott, quasi Durchgang vom g der Bratsche.
[5] Zusammenfassend kann man sagen, daß der erste Teil, die Orchestereinleitung und die erste "Äußerung" der Singstimme ganz auf Exposition eines schwebenden, unbestimmten Materials angelegt ist, und aus dem sich traumhaft, unterschwellig, unmerklich durch feinste dialektische Prozesse, aber nach außen wirkend wie ein nicht nachvollziehbares Sich-Niedersenken oder Aus-dem-Traum-Erwachen, die Singstimme herauskristallisiert.
Die Singstimme wird "geboren" materiell, wie bereits gezeigt; klanglich durch die vox-humana-Klänge von Englischhorn, Klarinetten (schon weniger!) und dem schattenhaft-verlorenen Klangcharakter der tiefen Harmoniestimmen.
(Noch ein Hinweis auf diese Deutung: der stets gleiche Summenrhythmus, der in den ersten drei Takten das "accelerando" des E.h. kontrapunktiert. Das, was wird, ist schon. Erwacht aus seiner Entrückung, um sie zu beschreiben.)
[6] Ein drittes Intervall läßt sich aus der Pentatonik herausfiltern: Die Quarte. Dies geschieht, nachdem der dialektische Melodievorgang im E.h. abgelaufen ist, in einer Rückführung (Takt 7-9), die die Wiederkunft des Anfangsintervalles b-c vorbereitet (diesmal in den Streichern: Aus ungestaltetem, freiem Holzbläserklang ist eine Begleitklangfarbe geworden (con sordino!), dialektisch hat sich das Kontinuum gespalten in Untergrund und -- zu erwartenden -- Inhalt. Man erwartet den "Solisten" ...)
Diese Rf kehrt die Bewegungsrichtung, auch das ist ein Parameter,
der dem statischen Feld entfiltert wird, um und führt dabei, ohne
also die dialektische Entwicklung zu entwerten, drei neue Elemente ein:
1. Den funktionalen Durchgang "as-a-b", welcher sich (z.B.) bei
Ziffer 8 als b-h-c spiegelt,
2. die Punktierung
.
,
welche Grundlage des Schlusses wird,
3. die Quarte, die bisher nur latent im Themenbeginn auftrat.
[7] Wie kunstvoll ist dieser Kontrapunkt, der keiner sein will, dieses scheinbar zufällig versetzt auftretende Ausatmen des Klanges, wie wird hier die Satztechnik des Kontrapunktes selbst entwickelt, indem sich die Stimmen immer wieder, als sollte es nicht sein, in den Einklang zurückziehen, aus welchem dann das Quartenintervall so tönt, daß niemand weiß, woher.
Die kleine Terz |-1-| der Kl. ist Echo auf g-b (das Synthese-Motiv);
|-2-| ist Umkehrung von |-1-|.
|-3-| erscheint als immer mehr augmentiertes Echo:
|-4-| und |-5-|, klanglich vorweggenommen im Quartabstand des
Klarinetteneinsatzes |-6-|.
Und die Bassfigur schließlich zielt auf das (später über c und d doch noch
erreichte) es.
Dieser erste Teil weist also absolute Integration der Singstimme in das kompositorische Ganze auf.
Von dieser unbestimmbaren Klarheit entfernt sich nun der Satz immer mehr, um am Ende "verklärend" wieder in sie einzumünden, geläutert und [8] nachdem er sich ausgesprochen hat. Reprise im wahrsten Sinne des Wortes, Zurücknahme der Äußerung, Rückkehr ins Innere, gewandelte Wiederholung auf höchster Ebene.
Doch bis zu dieser Ruhe, diesem friedvollen Ende, geschieht viel: Der Dichter spricht, der Künstler tritt aus sich heraus, der Komponist selbst somit, der diesen Stoff ja wählte, spricht somit über sich, er spricht weiterhin über eine Ruhe, über ein Ruhen in seiner Innerlichkeit, welches er aber, da er den Text ja deutet, komponiert.
(a) Der Komponist komponiert mit diesem Text also sich selbst und (b) dieser Text spricht über die Komposition.
(Man beachte auch die Vortragsbezeichnungen, die Teil der Deutung und Teil des klanglich-assoziativen Inhalts und Teil des Textinhalts sind, aber keine Vortragsbezeichnungen, z.B. am Schluss Takt 62, 1. Vl, "verklärt".)
Inwieweit am Schluß Wunsch oder Realität oder eingebildete Vorstellung gemeint ist, soll noch untersucht werden.
Im Mittelteil aber, um den es jetzt geht, tritt der Dichter "ausnahmsweise" [9] heraus zu uns (was aber gleichbedeutend mit künstlerischer Äußerung ist).
Dem entspricht die immer "engagiertere", gefühlvollere, betontere, aussagekräftigere Satzstruktur, die immer mehr sich entwickelnde (romantisch-tonale) Funktionalität.
Aber dieser Übergang ist nahtlos: die Melodie in Takt 16 z.B. ist eine variierende Beantwortung der Melodie der Takte 12/13: Die Harmonik ist umgestellt: Anfang eindeutig in c-moll, Schluß in B, -- somit Abschluß einer Einheit von zwei Zeilen durch kreuzweise harmonische "Reimung", der Quinte c-g entspricht die Quarte g-c ( somit nimmt dieser Teil Bezug auf den im Vorspiel hier folgenden Takt 9), der g-as-g-Bewegung entspricht d-es-d, dem Terzschluß entspricht die große Sekunde.
Ein weiterer, aber immer noch unsicherer Schritt (-- Halbschluß!) in Richtung Funktionalität ist unternommen worden.
Dieser wird durch die chromatische Überleitung und die daraus entwickelte zwischendominatische Chromatisierung nach B hin verstärkt.
Die nächste Zeile ist als [10] verstärkende Zusammenfassung der vorangehende zu verstehen: 1. Zielton g (as-g entspricht ungefähr b-g), 2. Zielton a (b-a = Terz-Sequenz von g-f)
Es kristallisiert sich eine energische aufwärts-strebende,
behauptende Haltung heraus, bei der der pentatonische Auftakt in
einen dreitönigen Sekundauftakt
umgebildet wurde, der den Schluß beherrschen soll. Dieser Auftakt war schon in Takt 13/14 da:
Dieser Ausdrucks"wille", der hier komponiert ist, überschlägt sich gleichsam und wird sprachlos: In einer schmerzhaft chromatischen "Melodie"; die substantiell nur aus "Funktion", aus Vorhalten oder Leittönen auf jedem vollen besteht, kadenziert diese erste Äußerung des sprechenden Subjektes. Ohne daß die Strophe beendet ist, ohne daß etwas gesagt ist: Nur, daß "die Welt nichts von mir vernommen" hat, ohne jede Wertung, doch die Musik spricht für sich: Die Ruhe des Anfangs, die dieser Aussage ja zukommt, ist umgekippt in den Schmerz der Chromatik, ins Gegenteil, das in derselben Aussage genauso verschlossen liegt.
[11] Dann: Trugschluß und Neuanfang.
Der Trugschluß als beherrschendes Symbol wurde erst ermöglicht durch die weitreichende Festigung der Harmonik durch die Chromatik. Erst wenn die Erwartung eindeutig ist, kann sie "betrogen" werden.
Trugschluß, im Mahlerschen Sinn, ist das Betrogen-Werden, das Verlassen-Sein, das Halt-Verlieren, und die einzige Möglichkeit fortzuleben, ist in der Innerlichkeit, in einer Harmonik, die in sich alle Trugschlüsse enthält und somit keinen ermöglicht, in der ungreifbaren Traumharmonik des pentatonischen Feldes. Aber Musik schreiben zu wollen heißt, sich äußern und gestalten zu wollen, "zu Herzen gehen" zu wollen, also, um zu gestalten und zu erregen, aus dem Feld herauszutreten, wie es in ergreifendster und erschütterndster [Weise, -- wie nie sonst in der Musik, --] in Mahlers "Neunter" geschieht.
Das Unbestimmte zu verlassen und zu setzen, Struktur zu kom-ponieren.
Trugschluß heißt aber auch, und das hier besonders, Distanz, Reflexion, Abkehr von der totalen Identifikation.
[12] Dieser plötzliche Zusammenbruch, der Verlust der Extase, gibt den beiden Stellen im "Lied von der Erde" diese erschreckende Sachlichkeit, Lapidarität, Brutalität und Einsamkeit, wenn aus trotz allem schmerzhaften Inhalt zwangsläufig "schön", d.h. funktional, geratener Melodien- und Harmonienmanifestation plötzlich alles im Trugschluß verstummt und nur die Singstimme, bar jeder Emotion und Hoffung, singt:
("Mein Herz ist müde", oder (letzter Satz:) "Die müden Menschen (gehn heimwärts)")
Von dieser Art sind Mahlersche Trugschlüsse: die lauten verzweifelt (Hammerschläge der "Sechsten"), die leisen ausdrucks- und hoffnungslos.
Nach diesem Trugschluß bei Ziffer 3 beginnen lose gefügte Zeilenvertonungen, bei denen das Verhältnis Singstimme/Orchester gleichberechtigt, aber eher unabhängig ist.
Der erste dieser Abschnitte (Takt 22-27) greift auf den pentatonischen Anfang zurück.
Die Singstimme greift auf "gestorben" in einem wunderschönen [13] Melisma den Rhythmus der Oboen/Klarinetten "Kadenz" auf.
Der Klang dieser Wortvertonung ist durch das bisher nie erreichte f'' ausdrucksstark, aber durch die pentatonische Grundstruktur und die Ausweichung nach g-moll (kein fis!) archaisch und fremd.
Die Harmonik "schweift". So wenig, wie früher mit dem "a" B-Dur gemeint war, so wenig wirkt hier das "des" als As-Dur.
Auch das "h" der 1. Vl in Takt 30 ist eine Farbe im Dienste des espressivo.
Die in diesem Teil behandelten 4 Zeilen sind lose motivisch verknüpft: In Takt 31 wird auf "gestorben" in quasi manischer, eigensinniger Wiederholung die Wendung [aus Takt 25]
. | |
f | es |
wiederholt.
(Die Gleichgültigkeit, auf die der Autor insistiert, entlarvt sich als
eine vorgetäuschte.)
Takt [34] f. ist Sequenz von Takt 28.
Am Ende dieses zweiten großen Teils setzt die erste wirkliche Modulation ein: Takt 35 empfindet man als Dominate nach c-moll, der Parallelen, die dann überraschend ver-durt wird.
Der symbolische Gehalt dieser [14] Rückung in die C-Dur-Sphäre und des folgenden Rücksturzes soll später untersucht werden.
Singstimme und Orchester (1. Violine) spielen nun quasi zusammenfassend zwei höchst selbstständige Melodien, die in ihrer strikten Materialkonstruktion und selbstständigen Eigenlogik ein Höchstmaß an konstrapunktischer Satzkunst darstellen.
Deshalb gibt es in den Takten 35-37 nur zwei melodieführende Stimmen: aus dem diffusen Anfang hat sich Klarheit und Aussage gebildet.
Beide Stimmen greifen unterschiedliches Material auf und stellen in sich nochmal Prozesse dar. (Ein Meisterwerk der Miniatur-Kunst:)
Die erste Violine greift das Quarten-Auftakt-Motiv der Singstimme von Takt 16 auf: Die ersten Zeiten Takt 36 und 37 entsprechen sich variiert in jeder der beiden Stimmen: Die Violine verändert die Auffüllung des Auftaktes, die Quarte verschwindet, um [15] in der Sequenz Takt 37 zweimal zu erscheinen. Der Stimmführungsverlauf in der Violine ist g'-a'-(g''a'')h''-c''', der absolute Spitzenton ist erreicht.
Die Singstimme greift zuerst die fallende Quarte auf (Takt 8 der Einleitung, z.B.) und kombiniert sie mit dem Auftaktmotiv, das nun, nach stetiger "sinfonischer" Entwicklung, hier in seiner reinsten Form vorliegt, und für den Schluß bereitsteht.
Das Motiv g-d wird durch das a dem pentatonischen Material angenähert. Die Kadenz erfolgt mit Hilfe des
-Rhythmus, der so den Einsatz des chromatischen Girlanden-Modelles vorbereitet.
War das der konstruktive Höhepunkt, so folgt nun der espressive:
Ist in Takt 38 das "Girlanden-Modell" der Oberstimme noch eindeutig diatonisch, so daß sich z.B: in den ersten 2 wieder Mikro-Modelle von pentatonischer Struktur ergeben, so kippt plötzlich in Takt 39 die Oberstimme auch in die Chromatisierung um. Harmonisch kippt der Satz durch die Verwandlung von der C-Dur-Sphäre zurück in die [16] Es-Dur-Sphäre.
Man hört aber in erster Linie
Takt 38 | 39 C G | c mit 6-Vorhalt | as - g |
Die Espressivität dieses Dur-moll-Wechsels wird unterstützt durch die kleine Sexte in der 2. Violine, mit (nicht ausdrücklichem) espressivo-Vermerk <>.
Waren bisher die Übergänge unbestimmt, fließend, so ist hier der erste gesetzte Einschnitt hörbar: Beginn der "Reprise".
Fassen wir zusammen: Der zweite, harmonisch geprägte Teil entwickelt sich "übergangslos" aus dem ruhenden Anfang.
Seine Satzstruktur ist gekennzeichnet durch polyphones (kanonisches, auch nicht-imitatorisches) Gegeneinander von Singstimme und Orchesterpart, die aber aus gleichem Material schöpfen und sich gegenseitig austauschen. [Was man in einer Klausur nicht darf!}
Die lose gefügten Prozesse lassen zwei Tendenzen erkennen: (1) Aufspaltung des Materials, Ordnungstendenz (Takt 38: Diatonik gegen Chromatik), und (2) "Aufhebung"; als Bewahrung alles [17] Gewesenen (Man siehe z.B. die pentatonischen Klein-Motive in Takt 23/24 2. Horn, im selben Instrument die Wendung b-as-|-f an der Wende zu Takt 28, die immer stärker (latent!) auftretenden Quarten ...
Das pentatonische Material durchbricht "unterirdisch" und mehr oder weniger beschädigt die ganze, aus dem zweiten Material gebildete Entwicklung.)
Die "Reprise" profitiert von allem Gewesenen und führt es auf höchstem ästhetischen Niveau auf den Anfang zurück. Das Englischhorn, welches seit der kurzen Reminiszens an den Anfang nach dem ersten chromatischen Ausbruch, also Takt 22ff, geschwiegen hatte, setzt hier zur Kennzeichnung der Reprise wieder ein. "Farbe" ist bei Mahler also ein Konstruktionselement.
Die erste melodische Äußerung selbst taucht nur noch zu Beginn dieser letzten Strophe im Englischhorn auf, und zwar mitsamt der Entwicklungsgeschichte. Das "Werden" ist in der Reminiszenz erstarrt zu einer Form des Themas. Was einst Prozeß war wird zitiert als Metapher, als Erinnerung.
[18]
In der nun einsetzenden Singstimmenmelodie, die in ihrer Verhaltenheit
ihre Innigkeit findet, ist das "Thema" mannigfaltig anwesend:
materialiter in den beiden Formen, die der Filterungsprozeß aus
der Pentatonik gewonnen hat:
1) der sekundmäßige Auftakt in einen Vorhalt
2) eine Dreiklangsbrechung mit zugefügtem Vorhalts- oder Leiteton
(zu Beginn:
hier z.B.
)
Das Anfangsmaterial hat sich von der Pentatonik emanzipiert.
Das Modell 1 wird aufsteigend verwendet: Takt [43]
in seiner Minimalform, dann Takt [44].
Modell 2 absteigend:46 as-(c-moll), 47 C-(B-Septakkord)
Modell 1 in Takt 49 verfremdet (man lese d statt f),
Takt [51], Takt [52],
Modell 2 in Takt 54f (als Grundton) Vorhalt zur Septime, u.s.w.
[19]
Liest man die mit jedem Modell umspielten Kerntöne, so erhält man den
wörtlichen Verlauf der ersten Melodie:
b-c in Takt [43], es als Zielton in Takt 44, g als Zielton in Takt 46.
Schließlich c als quartenmäßige Überhöhung des von der Melodie erforderten b.
Das Thema ist auch da in der Pentatonik [der Gesangssstimme] des Taktes 47[/48]: Vom Material her ist es möglich, aus jeder Dur-Skala drei pentatonische Skalen zu [filtrieren], aus Es-Dur also die Teilskalen [es-f-g]-[b-c] wie zu Beginn, oder [es-f]-[as-b-c] oder [es-f-g]-[b-c].
Es wird somit quasi über c-moll vom Anfangsvorrat zum Vorrat c-b-as-f-es "moduliert".
Auch in der Wendung "und ruh'" ist das Thema, und zwar die kleine Terz g-b, vorhanden. Zum ersten Mal wird in dieser herrlichen (da frei einsetzenden) schwebenden Vorhaltswendung die kleine Terz f-as auskomponiert.
Der Mittelteil der Reprise (eingeleitet durch einen c-moll Trugschluß) stellt sich in seinem ersten Abschnitt [20] dar als Sequenz der ersten Zeilen dieses Formteils.
(Durch die Korrektur f statt d in Takt 49 wird außerdem die Quarte für den zweiten Abschnitt des Mittelteils vorbereitet.)
Die Sequenzierungen dieses auftaktigen Modelles (Modell 1,
) aber bleiben seltsam still, statisch. "Ohne Steigerung" ist vorgeschrieben. Die Harmonik "steht", wie zu Beginn, und mündet tatsächlich in einen statischen Es-Dur-Klang (4-6-Akkord = Dominante!)
(Wieder starke dialektische Filterung: Melodie geht zur Einstimmigkeit, Harmonik geht in einen Akkord über.)
Ähnliche Sortierung im Material: Ist in Takt [43] das Auftaktmotiv, das erste Motiv des Liedes auf Sekunden zusammengeschrumpft, so erscheint es nun zum Dreiklang geweitet: Takt 54 erreicht die Oboe den relativen Spitzenton g.
(Die Singstimme und Holzbläser erreichen zuerst das es'['] (Takt 16),
dann f[''] (gestorben!), nun g[''],
die Violine bewegt sich nur einmal darüber, bei der "Katastrophe" Takt 38.)
[21] Auf diesem Spitzenton tritt nun eine Dominante nach c hin auf, die sofort mit C-Dur (!) beantwortet wird, welches (nebst einer sixte ajuotée) vermollt wird.
Das harmonische Ereignis der Takte 35-39 wird hier zusammengefaßt.
Die symbolisch-assoziative Bedeutung dieses plötzlich sich nach C hin öffnenden Klangraumes, diese plötzliche Vision und Perspektive, die wieder ins doch relativ "matt" gestaltete Es-Dur hinabzieht, steht außer Frage.
Diese Rückmodulation nach Es geschieht durch den Schritt g-f, welcher aus dem Klang des Taktes 55 die D[ominante] nach Es macht.
Takt 55ff entspricht, [trotz] der Harmonik und [trotz] der in Takt 55 etwas anders gesetzten Punktierung, den Takten [7]ff.
Und zwar: Oboe hier entspricht dort E.h. (8va höher!),
Vl. entspricht Klarinette.
Vc und Bässe bleiben [(ab Takt 57 mit Auftakt)]
Statt der in Takt 10 folgenden D steht hier die DD, wobei das a dem a des Taktes 7 entspricht, und die Singstimme kadenziert, indem sie die [22] letzten Noten des Basses zu dem "es" führt, welches schon in Takt 10 erwartet war.
Wir hören ein Gebilde von höchster Schlichtheit und Symmetrie: In der Mitte steht "in meinem Lieben", zweimal, auf "b" endend, von f kommend.
Die lang erwartete Antwort, auf den Grund, den Ort und die Art der Ruhe: sein "Lied": Kadenz von b über f nach es.
Die Wiederholung des Tones b als unverrückbare, zentrale These, [insistierend], (wie "gestorben", nur ganz anders), als Zentrum der Aussage. -- Die Singstimmenkadenz ist identisch mit Takt 8 der Klarinette.
Der Reprisenteil der Reprise, wieder durch den Eh-Einsatz gekennzeichnet, wiederholt in diesem Instrument, welches nun ganz als identisch mit der Singstimme gesetzt ist, deren Part (Worte werden überflüssig, denn was gesagt werden soll ist ja in der Musik.)
Wie ausdrucksvoll ist doch die Verlängerung des f in Takt 60 auf eine (gegenüber der zu Beginn; und so die rufende, ausdrucksvolle Verkürzung des f in Takt 61 [23] auf eine "portato"-
Wie "innig" das Aufgehobensein, das Verlöschen des Individuums im überpersonalen Gruppenklang der 1. Violinen.
Über-beschreibbar wirkungsvoll der unmerkliche Übergang von Takt 46 zur Sphäre des Taktes 65 und somit der Takte 8 ff.
Der Takt 56 entspricht wörtlich in Ober- und Baßstimme dem Takt 57, also dem Takt 9 (endlich folgt unmittelbar nach diesem Motiv das es. Man sieht, wie genau Mahler übers ganze Stück hin Verknüpfungen disponiert und ausspart.)
Takt 64 ist ein den Takt 8/56 ersetzender Vorhalt (nie war der Vorhalt f-es so lang und in dieser Oktave!) Dabei entspricht beiläufig das Material der Violin-"Kadenz" Takt 64 - Schluss dem der Singstimme in Takt 58/59! Der Takt 63 nun entspricht nun vollkommen dem was man später Berg als "den kleinsten Übergang" zugeschrieben hat.
Die Figur ist Sequenz von 62 (somit von 45/46), und Mittler zwischen 47 und 56.
[24] Das Lied schließt, verklärt, mit dem Krebs seiner ersten Regung c-b, Zusammenfassung des Schwankens zwischen Es und c, nicht so sehr ausdrucks-voll, wie vorgeschrieben, vielmehr bedeutungs-voll und abschließend-offen.
a) Zur Kompositionstechnik:
Wir erkennen eine äußerste Materiallogik, einen Singstimme wie Orchester gleich behandelnden (nämlich als zu eiunem höheren Ganzen gehörende) Entwicklungsvorgang.
Dazu kommt eine äußerste Ökonomie an Mitteln und ein äußerster Bezug von allem auf alles.
Zur Ökonomie gehört auch die "Dosierung". Einzelne Töne bleiben ausgespart, andere tauchen nur (oder nicht) in bestimmten Zusammenhängen auf.
Nur so ist es möglich, daß an sich "banale", simpel Phänomene, wie das des Vorhaltes "as vor c-moll" so verklärenden, großartig-naiven Bedetungsinhalt bekommen.
Nur durch Ökonomie und Ordnung war es möglich, mit so wenig [25] Mitteln so viel zu sagen, so "anzurühren".
Und noch eins: Nichts geht verloren, alles wird aufgegriffen, noch einmal zitiert und "liebevoll" abgehandelt.
Die Kompositionstechnik ist Teil der Aussage.
b) Zur Aussage
Wie schon erwähnt vertont hier nicht nur der Komponist einen Text. der Text sagt etwas über sich selbst, der vertonte Text also über die Vertonung.
Das dem Text eigene Kunstverständnis ist ein zurückgezogen-esoterisches. Dem Künstler genügt es, in seinem Werk, seinem Lied und seiner Erinnerung zu leben. Die Welt geht ihn nichts an und er der Welt nichts.
Der künstlerische Gestaltungsprozeß aber ist ein "an die Welt treten".
Mahler teilt mit und teilt aus von der Ruhe, die er zu gestalten weiß, aber diese Gestaltung entzündet sich an dem Konflikt, den der Komponist mit der Tatsache hat, daß er "der Welt abhanden gekommen" ist.
Die Stelle, z.B., an der das C-Dur [26] der Aussage, daß er gestorben ist, wieder zurückkippt ins moll, ist für mich ein Indiz, daß diese Erkenntnis nicht identisch ist mit der "Ruhe", sondern daß Trennung von der Welt auch Verzicht heißt.
Meiner Meinung nach geht Mahlers Aussage über die Rückerts hinaus: Der Text preist eine Abkehr vom "Weltgetümmel", von der Oberflächlichkeit, die das Wesentliche verdeckt. Sie fordert Rückzug ins Innere und Konzentration auf die eigene Seele als Objekt des Liedes.
Die Musik kann mehr als Worte können, sie kann Utopie unmittelbar sinnlich erfahren lassen, und so sehr Mahlers Engagement gegen "welthafte" Ungerechtigkeiten (man denke an die vielen Soldaten-Antikriegslieder) immer metaphysisch geprägt sind, weil sie Mangel an Metaphysik anprangern und hörbar werden lassen (die Hammerschläge der [Sechsten Sinfonie] sind nicht so sehr Symbol als brutale Vernichtung des eh schon vorhandenen Symbolcharakters von Musik),
so sehr ist dieses Lied realitätsbezogen. Nicht wie bei Rückert Aussage, sondern Versprechung ist bei Mahler gemeint, weil Musik ja immer nur versprechen kann.
[27] Ruhe, Frieden und Entrückung als Utopie, als himmlische Verheißung, als Möglichkeit für jeden Menschen, sich dem Verklärten zu integrieren, "in seinem Lieben, in seinem Lied".
Insofern ist Mahlers Musik dem Text überlegen: Als sie das im Gedicht verdrängte Schmerzhafte des Verlustes der nie gehabten Weltzugehörigkeit aufdeckt, -- und weil sie den falschen Egozentrismus ersetzt durch die universale Vision.
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2014-10-17_18h05
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