Vexations
Versuch der Enträtselung der Komposition
von Erik Satie
, (1977/2011)
1
[Zum Titel]
2
[Analyse]
2.1
[Schematisch verbogenes Organon]
2.2
[Schritte der Tenorlinie und der Oberstimmen]
2.3
[Schreibweise der Akkorde]
2.4
[Notensatz der linken Hand]
2.5
[Gestus und Gliederung]
2.6
[Die vier DVs]
2.7
[Klangwiederholungen und zwei Lizenzen]
2.8
[Anschlag 16, das ces]
3
[Zusammenfassung: Regeln und Ausnahmen]
A
Reproduktion der Partiturseite
"Vexations", ungefähr "Quälereien".
Wer soll hier gequält werden?
Der Hörer, der Interpret?
Ersteres setzt voraus ein Zuhören-Müssen, und könnte somit als Kritik am kulturbeflissenen Hörverhalten gemeint sein.
Eine sadistische Haltung des Komponisten dem Interpreten gegenüber,
der dasselbe achthundertundvierzigmal spielen soll?
Als Konzentrations- und Anschlagsübung kann das doch durchaus
förderlich gemeint sein, und überhaupt, niemand ist gezwungen, sich
derart quälen zu lassen.
(Es gibt ja so schöne Sonaten von Beethoven, die man stattdessem aufführen kann.
Wenn man sich vorher jahrelang mit Tonleiterüben --- quält !-)
Oder ist das Opfer der "kritische Leser", der beruflich oder spaßeshalber nach Entschlüsselungen, Erklärungen, Vereinfachungen sucht? Der immer versucht, die Botschaft zu verstehen, deren Erkennbarsein als schlechthin notwendiger Denkgrundsatz ihm untergeschoben wurde (einzig aber nachhaltig) durch seine Vorstellung von Kunst.
So wie er jetzt sich herumschlägt mit dem Worte "vexations" am Kopfe einer mystischen Seite.
Der Mann an der Schreibmaschine, seht ihr, wie es ihn quält?!? Das Opfer bin ich! Mit der ersten Zeile schon befinden wir uns in einem Vexierbild mit Konnotationen zwischen Intention und Spekulation, As- und Dissoziation, Anion und Kation, -- jedenfalls aber Provokation für unser musikalisch-systematisches Denken.
Auf diese Polysemie, auf die anscheinende Kabbalistik des Notenbildes, auf all diese Sonderlichkeiten gründet sich jedoch paradoxerweise das Vertrauen, daß gerade dieses Stück entschlüsselbar, verstehbar sei, da es ja so offenbar sich bemüht, etwas zu verstecken.
Der Blick in den Notentext (cf. Anhang A ("Reproduktion der Partiturseite ")) zeigt folgenden Befund:
Das Werk besteht aus dem achthundertvierzigmaligem Abspielen dieser einen Seite.
Betrachten wir im folgenden der einfacheren Zählweise wegen die
optionale Spielanweisung, das einstimmige Thema einzufügen
("...il sera d'usage ...") als verbindlich.
Dann beinhaltet die Seite das vier(4)malige Spielen eines Grundmodells,
mit einer Dauer von dreizehn(13) Vierteln,
enthaltend achtzehn(18) Anschlägeund am Ende
eine(1) Pause.
Das Grundmodell wird jedesmal repräsentiert durch die Melodie der linken Hand, im Bereich von klein-f bis eingestrichen-e.
Beim zweiten Ablauf des Grundmodelles treten zwei Stimmen in der rechten
Hand dazu, die sich im gleichen Rhythmus wie die Unterstimme bewegen,
und zueinander abwechselnd im Abstand einer übermäßigen Quarte oder
verminderten Quinte stehen.
(Eine(1) signifikante Ausnahme von diesen Intervallen besteht gleich
mit dem zweiten(2) Anschlag und wird weiter unten zu besprechen sein, siehe
Abschnitt 2.7 ("[Klangwiederholungen und zwei Lizenzen]"))
Beim vierten(4) Ablauf erscheinen diese Stimmen im doppelten Kontrapunkt der Oktave: Der Sopran vom zweiten Ablauf erklingt eine Oktave tiefer, nunmehr als Alt.
Es entstehen immer insgesamt sog. "verminderte Sextakkorde", dh. verminderte Dreiklänge, bei denen die Terz im Bass liegt. (Hier gibt es eine(1) weitere Ausnahme, nämlich mit Anschlag 12.)
Die nicht zu leugnende Komplexitat des Notenbildes mit den ständig wechselnden Vorzeichen, bis zu geheimnisvollen Doppel-Bees ist nun nichts anderes als die logische Konsequenz von überraschend einfachen Grundregeln.
Die als "THÈME" bezeichnete Unterstimme ist dabei der logische Ausgangspunkt.
Der Satz ergibt sich dann
Der erste der beiden dreistimmigen Abläufe beginnt in der "Quintlage", also
die verminderte Quinte (was die Septime eines verkürzten Dominantseptakkordes
wäre) liegt oben, und der "Grundton" des verminderten Dreiklanges
(=die Terz dieses Septakkordes) in der Mittelstimme.
Danach wird in einem zweiten Ableitungsschritt
ganz schematisch jeder zweite Anschlag der Mittelstimme
eine Oktave nach oben und dabei in die Oberstimme verlegt!
Den Anfang (unter Korrektur oben erwähnter Irregularität in Anschlag zwei!) kann man sich somit höchst einfach erklären als "in Anti-Parallelen umgebogene Parallelen", also ...
Betrachtet man aber den ganzen Satz als Folge von um ihren Grundton verkürzter Dominantseptakkorde, so entpuppt sich das "THÈME" der linken Hand seinerseits als Quintorganon zur Linie der imaginären Grundtöne, -- das ganze als VIERstimmes Doppelorganon unter Weglassung der Fundamentalstimme, die linke Hand ist ein Tenor, kein Bass, wie es uns seine Stimmlage auch schon immer suggerierte, und wie wir ihn im folgenden nennen werden.
Wenn der Tenor also einen Repetitionsschritt ausführte, was bis auf die eine(1) Ausnahme am Schluss nicht passiert, dann würden nach diesem Prinzip der Sopran von einem ungeradzahligen Anschlag aus eine übermäßige Quarte nach oben, und von einem geradzahligen Anschlag dieselbe nach unten gehen. (Der Alt entsprechend mit verminderten Quinten):
Die Unterstimme bewegt sich nun dem Grundsatze nach (aber nicht immer in der sich ergebenden Vordergrundgestalt, siehe folgende Tabelle!) in Gegenbewegung zu dieser durch die Akkordumkehrung induzierten Bewegung der Oberstimmen: Ebenfalls völlig schematisch geht der Tenor von jedem ungeradzahligen Anschlag aus abwärts, von jedem geradzahligen aufwärts. Als allerletzten Schritt, am Ende des Modelles, steht dann als Ausnahme eine Repetition.
Es sind also die Schritte der Oberstimmen gänzlich von denen der Unterstimme determiniert. Die Konsequenzen sind offensichtlich zunächst auf der Ebene der Klavier-Tasten, also unabhängig von der Notation. Da gilt:
Messen wir Intervalle in "Halbtonschritten", also Tasten, dann gibt es folgende theoretische Kombinationen und folgendes tatsächliche Auftreten: (Wir erinnern: ob "aufwärts" oder "abwärts" ist schematisch alternierend!)
Unterstimme | Oberstimmen | Auftreten |
-- | ||
0 | 6 | tritt nicht auf, stattdessen: |
0 | 0 | Schluss-Repetition |
-- | ||
1 | 5 Gegenbewegung | (tritt nicht auf) |
2 | 4 | 1*ab, Gr. Terz ist größter Schritt der Oberstimmen |
3 | 3 | 1*auf, 2*ab |
4 | 2 | 1*auf, 1*ab |
5 | 1 | 2*auf, 1*ab |
-- | ||
6 | 0 Repetition | (1 mal, 12->13, wird aber weg-korrigiert zu 1!) |
-- | ||
7 | 1 Parallelbewegung | 2*auf |
8 | 2 | 2*ab |
9 | 3 | 1*auf, 1*ab |
Die kompliziert anmutende Vorzeichenwahl kommt nun ebenfalls durch äußerst einfache Regeln zustande. Zunächst bezogen auf die Unterstimme:
Als Konsequenz folgt, dass eine "schwarze Taste" die zum ersten Mal auf einer ungeradzahligen Anschlagsposition auftritt, deshalb mit Kreuz geschrieben wird, und danach ausschließlich auf ungeradzahligen Positionen auftreten kann, vice versa.
Weitere Konsequenz: Von einem be-notierten Ton wird immer aufwärts gegangen, von Kreuzen immer abwärts.
Der Komponist wählt eine Gleichverteilung: über dem initialen c stehen cis und dis, darunter b und ges (as fehlt ganz, dafür aber ausgleichend ein ces, dazu unten mehr)
Die weißen Tasten werden (bis auf eine Ausnahme, die mit der vorigen
identisch ist) immer vorzeichenlos geschrieben
(Der Ton "f" steht auf einer "b"-Position, sodaß "eis" nicht möglich ist.
Vice versa für "e".
Der Ton "c" steht auf den Positionen 1 und 8, könnte also beim
ersten Mal als "his" notiert werden, nicht aber beim zweiten Mal.
Der Ton "h" steht auf 13 und 16, und wird tatsächlich beim zweiten Mal
anders notiert, als "ces"
)
Die Regel für die rechte Hand ist nun ebenso einfach:
Die Konsequenz des Verbotes (resp. der Nicht-Anwendung) der Enharmonik ist nun bezogen auf beide Hände eine gegenteilige: In der linken bewirkt es ein MEHR an Übersichtlichkeit, da jeder Ton nur in einer Schreibweise auftritt, in der rechten ein MEHR an Unübersichtlichkeit, an verschieden geschriebenen enharmonisch gleichen Tönen, da zwischen verschiedenen verminderten Dreiklängen keine Zusammenfasssung der benötigten Tonvorräte stattfindet.
Auch für den Notensatz der linken Hand in den mehrstimmigen Kontexten scheint ein möglichst einfaches Regelsystem gesucht und gefunden worden zu sein:
In der ersten mehrstimmigen Akkolade führt das zur Gleichverteilung, nämlich neun(9) Anschläge in beiden Notensystemen.
Jedoch ist die Verteilung im zweiten mehrstimmigen System (acht zu zehn) die natürlichere, da weit und breit kein "Nachbar" in Sicht ist, der das erste c-eins ins obere System motivieren würde.
((
Es können aber bei den vorliegenden Noten ("M.E. 7714") auch
Stichfehler nicht ausgeschlossen werden! Zb. trägt das ais
des Anschlags 11 einmal ein doppeltes Auflösezeichen!
))
Obwohl keine Taktangaben gemacht werden, konstruiert unser Gehör sofort eine Dreiteiligkeit, mit einer deutlichen Kadenzwirkung am Ende jeden Teiles und des Ganzen. Dies deshalb, da die beiden abschließenden Viertel-Anschläge konstant bleiben, während die erste Hälfte der "Takte" und auch die Auffüllung des zweiten Viertels selber, sich durchaus ändern können:
Man hört also ...
Diese sehr konventionelle Syntax wird noch unterstüzt durch weitere Konsequenzen und Setzungen:
((
Dies geht selbstverständlich in klassisch-funktionalem Sinne
nicht parallel mit der Harmonisierung durch die Oberstimmen.
In anderen Stilen und Genres, z.B.
in verschiedenen Richtungen der Jazz-Musik, kann aber eine Kadenz sehrwohl
auch auf solche Akkordformen hinzielen.
))
Harmonisch ist bei einer Folge von verminderten Dreiklängen das übergeordnete Ordnungssystem das der verminderten Septakkorde, auch genannt "DV". Vom enharmonischen Klangeindruck nämlich ist es ein großer Unterschied, ob zwei aufeinanderfolgende Dreiklänge Untermengen desselben oder verschiedener von diesen sind. Im ersten Fall wird nur ein einziger Ton ausgetauscht, im andern Fall alle.
Nennen wird die drei (modulo Enharmonik!) möglichen verminderten Septakkorde A, B und C, und klassifizieren nach diesen die Töne der Tenorstimme (und damit sofort auch die sich ergebenden Dreiklänge):
Zunächst eimal wird die oben behauptete "kadenzierende" Unterteilung
bestätigt. Die Klänge der beiden letzten Viertelanschläge der drei Abschnitte
gehören zu den folgenden
Gruppen, wobei die eingeklammerten für wiederholte Klänge stehen:
B A | A (B) | (C) B
Die Syntax und Gestik entspricht dem, was in klassischer Harnomik "Halbschluss" und "Ganzschluss" wäre: Abschnitt 2 spiegelt Abschnitt 1, aber unter Wiederverwendung eines Klanges, während Abschnitt 3 eine (für die Viertel-Anschläge) völlig neue Klanggestalt einführt, gleichsam die Sub-Dominante, und mit einem frischen Vertreter der allerersten Klanggruppe B endet.
Die Zahlen summieren in der ersten Zeile die bis dato neu aufgetretenen Tonhöhen (und damit Klänge), dazu in Klammern die wiederholt aufgetretenen. Die zweite Zeile zeigt die neuen Töne pro Takt und Gruppe, die allerunterste Zeile diese im Ganzen.
Wie erwähnt hat das Modell achtzehn(18) Anschläge, -- siebzehn(17) ohne die abschließende Repetition.
Also müssen sich Tonklassen wiederholen.
Die Unterstimme füllt die große Septime klein-f bis e-eins. Also gibt es keine Oktaven, sondern nur Wiederholungen in identischer Lage.
Als einzige Ausnahme tritt der Ton "as" aus dem DV "C" nicht auf! Also müssen 17-11=6 Töne Wiederholungen sein. Diese sind in obigem Notat eingeklammert:
dis | aus A | 1+2 mal |
c | aus A | 1+1 mal |
ges | aus A | 1+1 mal |
cis | aus B | 1+1 mal |
h | aus C | 1 mal, +1 mal als ces |
Aus A wird also ein Ton zweimal und zwei Töne einmal wiederholt.
Aus B hingegen nur ein Ton einmal, -- plust die unmittelbare
Tonwiederholung am Ende, die aber etwas anderes ist, nämlich "Verzierung".
Aus C wird ebenfals ein Ton einmal wiederholt, allerdings
ausnahmsweise enharmonisch anders notiert.
Man erkennt eine deutliche Ungleichbehandlung der drei DVs, entsprechend
eine deutliche Ungleichverteilung der Anschläge mit
8 / 5 / 4
wobei die "4" bei DV "C" auch nur fur drei(3) verschiedene Klänge steht!
Immer wenn also aufeinanderfolgende Töne der Unterstimme aus derselben DV-Gruppe stammen, dann wechselt der verminderte Dreiklang nur minimal. Das ist der Fall bei
Die Abfolge 12+13 ist ein Sonderfall, da hier die Unterstimme einen Tritonus-Schritt geht. Nur die bisher explizierten schematischen Bildungsgesetze anwendend hieße die Stelle, beginnend mit Anschlag 11:
Die sich ergebende Repetition in der rechten Hand ist nicht gewollt, deshalb werden beide Töne des ersten Akkordes (12) con licenca um einen Halbton erhöht. Es entsteht enhamonisch der Klang f-a-es, ein Dominant-Septakkord ohne Quinte. Dieser fügt sich unauffällig in das Klangband ein, da die anderen Klänge ja, siehe oben, auch als (verkürzte) Dominant-Septakkorde gehört werden können.
Es ist nachweisbar nicht so, daß hier die Unterstimme einen "falschen Ton" bringt, der eigentlich "fis" heißen sollte!
Dual das Verhalten bei Anschlag zwei:
Hier wird das c zum cis und das fis zum f korrigiert, also die Oberstimmen
gegensinnig verändert.
Der Grund mag darin bestehen, daß sonst die beiden ersten Anschläge gleich mit
einer Fast-Wiederholung von Ausschnitten desselben DV A besetzt wären,
und der harmonische Prozess gleich zu Beginn stockte.
Durch die Korrektur entsteht ein übermässiger Dreiklang, der schon
erheblich aus dem Kontext fällt.
Allerdings kann es wahrnehmungspsychologisch schon eine Weile dauern,
bis das Grundraster der gleichbleibenden verminderten Dreiklänge als
der Normalfall internalisiert ist, und der übermäßige überhaupt erst
störend wirken kann. Bis es soweit ist, kann der Hörer sich u.U. auch an
diesen bereits gewöhnt haben !
Interessanterweise hört man die Anschläge 13 bis 16 als reinen
gebrochenen H-Dur-Dreiklang, wenn das THÈME einstimmig vorgetragen wird.
Die Harmonisierung bedient sich der Klänge
C (A) (A) (C)
Dieses H-Dur ist eine klassische funktionale Dominante zum abschließenden e, jedenfalls in der einstimmigen Version.
Um dies zu Verunklaren, besonders im Notat der mehrstimmigen Stellen, wählt der Komponist hier ausnahmsweise eine enharmonische Notation. Damit variiert er zudem die "Arten von Wiederholung", wie sie oben aufgelistet wurden.
Die kadenzierende Funktion des allerletzten Quartschrittes wird besonders erkennbar als im klassischen Sinne "architektonisch", wenn man zusätzlich nachvollzieht, daß ...
Zusammenfassend stellt sich die Partitur von Vexations dar als entstanden durch die konsequente Anwendung einfachster Regeln, gefolgt von punktuell gesetzten Ausnahmen.
Jene lassen sich so zusammenfassen:
Die Ausnahmen ("Lizenzen") sind dann:
Einmal so auf einfache Prinzipien und klare benennbare Ausnahmen zurückgeführt, ist das ganze auch eher konventionell und längst nicht mehr so quälend.
made
2014-11-15_10h29
by
lepper
on
heine
produced with
eu.bandm.metatools.d2d
and
XSLT